Ich richte mich kraftlos auf und betrachte die Landschaft mit stumpfen Blick. Irgendwo bellt ein Hund, irgendwo bellt immer ein Hund, ist Ihnen das schon aufgefallen? Wenn ein Hund anfängt zu bellen, bellen auf ein geheimes Kommando hin alle anderen Hunde. Was haben sie sich wohl zu sagen?

Die Leiche des Fahrers dampft in der Morgenhitze vor sich hin. Während ich das Handy aus der Hosentasche krame um den Notruf zu betätigen, betrachte ich mich von oben bis unten.

Der Anzug ist in Fetzen, die Hosen sind dreckverschmierte Lappen, die Haare sind voller Blut.

Jemand nimmt ab, ein Krankenwagen ist unterwegs.

Nina gibt mir ein Zeichen mit der Hand.

„Fahren Sie nach Tokio, bringen Sie das Päckchen an die Adresse, ich muss hier bei Kaito bleiben Ich weiß nicht, ob er das übersteht, wir treffen uns in Tokio und reden dort über alles, würden Sie das für mich tun“? Diese Worte kommen hastig über ihre Lippen, ich schweige.

„Nehmen Sie den Zug in Kyoto, in ein paar Stunden sind Sie in der Hauptstadt, gehen Sie zu der Adresse. Ich melde mich bei Ihnen, wir sehen uns. Ein Auto ist schon unterwegs um Sie hier abzuholen, vertrauen Sie mir bitte“. Ihrem flehenden Blick kann ich nicht widerstehen, obwohl ich weiß, dass das ein Fehler ist.

Ein schwarzer Toyota Century nähert sich uns. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die Tanakas und denke dabei unwillkürlich an die „Beständigkeit der Erinnerung“, von Salvador Dali.

Nina und Kaito liegen da, als wären sie die weichen Uhren auf dem Gemälde des spanischen Surrealisten.

Ich steige ein und während das Auto sich in Bewegung setzt, sehe ich dieses bizarre Bild mit dem Wrack und den beiden reglosen Gestalten, die Zeit scheint für einen Augenblick stehen zu bleiben.

Wir fahren zügig weiter.
Der Fahrer sieht mich mitleidig an und schiebt mir einen Umschlag zu. „Das ist für Sie, von Nina Tanaka“.

Ich öffne ihn und habe ein dickes Bündel Dollarnoten in der Hand. „ Was soll ich damit ?“, frage ich, der Fahrer schweigt und richtet seinen Blick starr auf die Straße.

Nach einer Fahrt von ungefähr einundeinhalb Stunden erreichen wir Kyoto, heute gibt es hier keinen Umami-Kurs mehr.

Am Bahnhof steige ich aus, abgerissen, blutverschmiert und stinkend.

In einem Schaufenster sehe ich einen Anzug von Ermengildo Zegna.

Ich probiere ihn an, er passt wie angegossen. Dazu kaufe ich noch etliche Hemden, ein paar Hosen und was man sonst noch so braucht. Meine Ray-Ban liegt irgendwo zerbrochen auf der Straße, ich besorge mir eine neue. Alles wird mit dem Geld aus dem Umschlag bar bezahlt.

In der Umkleidekabine ziehe ich mich hastig um, die alten Sachen lasse ich dort liegen. Irgendwo wasche ich mich so gut es geht. Ich schaue in den Spiegel und sehe ein müdes, schlafloses, abgekämpftes Gesicht, ein Whisky wäre jetzt gut.

Der Bahnhof in Kyoto ist ein futuristisches Gebäude, eine Kathedrale aus Glas und Stahl. Bis der Shinkansen abfährt habe ich noch etwas Zeit und nehme aus einem Impuls heraus den Aufzug zum Skydeck, einmal noch will ich einen Blick auf die Stadt werfen.

Die Aussichtsplattform ist voller Touristen die alle Atemschutzmasken tragen. Ich denke an die vergangenen 24 Stunden, plötzlich muss ich mich über das Geländer übergeben.
Der Mageninhalt mit dem letzten Rest Kaiseki und einer Miso-Suppe fliegt in Zeitlupe vor meinen Augen in die Tiefe.

Alle wenden sich entsetzt vom Anblick ab, eine Kinderschar stobt kreischend auseinander, einige Kinder zeigen mit ihren Fingern wild gestikulierend auf mich. Es wird Zeit zum Bahnsteig zu gehen.

Vorher kaufe ich am Schalter zwei Tickets für die Green Class nach Tokio, ich will meine Ruhe haben.

„Sie haben Glück“, sagt der weibliche Roboter hinter der Glasscheibe und lächelt mich mit seinen leuchtenden LED-Augen freundlich an, „es gibt noch zwei Plätze im Alpha X, der Zug geht in 20 Minuten ab Gleis 5, er hat sogar eine Dusche, sie haben es nötig, das sagen die Sensoren. Darf ich die Tickets für Sie buchen?“ Die Farbe des Roboter-Mundes wechselt unmerklich von blassrosa zu dunkelrot, die Augenlider zwinkern mir mechanisch aufreizend zu.

„Kann ich bar bezahlen?“, frage ich und schaue den Apparat dabei kritisch an.
„Yen, Dollar oder Euro“, die Stimme klingt auf einmal sehr geschäftsmäßig.

„Dollar, bitte“.

„Kein Problem, die Tickets kosten 450$, darf ich sonst nach etwas für Sie tun?“

Es öffnet sich eine kleine Bezahl-Schublade,  ich lege die Scheine dort hinein und entnehme die Tickets.

„Shinkansen wünscht eine gute Reise“, sagt der geschäftstüchtige Roboter noch mit einer sexy Stimme, bevor ich mich zum Gleis bewege.

In der Nacht ist Abfahrt.

Ich bestelle einen Whisky, der Mastenwald des Bahnhofs zieht langsam am Fenster vorbei während die beleuchtete Stadtlandschaft in Dunkelheit übergeht.

Ich würde gerne Musik hören. Einmal hat mein Freund Marcus zu mir gesagt:

„Matias, Tainted Love, Where Did Our Love Go in der extended Version ist geil.
Das ist Musik aus den 80ern. Richtig gut gemacht, barrierefrei. Ich liebe diese 80er.
Musikalisch verspielt.

Manche sagen, das wäre schlicht. Vielleicht stimmt das, aber Musik darf auch einfach mal nur schön sein. Das Lied hat Muskeln, ist ein Schwächling, hat was Grobes, so funktioniert Pop“.

Wie recht er hat, ein gutes Stück. Ich höre den Song im Geiste, die extended Version hat noch mehr Text.

Tainted Love

Sometimes I feel I've got to
Run away I've got to
Get away
From the pain that you drive into the heart of me
The love we share
Seems to go nowhere
And I've lost my light
For I toss and turn I can't sleep at night


Once I ran to you (I ran)
Now I'll run from you
This tainted love you've given
I give you all a boy could give you
Take my tears and that's not nearly all
Oh tainted love
Tainted love


Now I know I've got to
Run away I've got to
Get away
You don't really want it any more from me
To make things right
You need someone to hold you tight
And you'll think love is to pray
But I'm sorry I don't pray that way




Once I ran to you (I ran)
Now I'll run from you
This tainted love you've given
I give you all a boy could give you
Take my tears and…

Ich gehe unter die Dusche und warte auf die Ankunft in Tokio.

über den Autor

Mathias

Mathias Guthmann schreibt unter anderem für kulinarische Zeitschriften und den Schachsport. Seine Essays, Reiseberichte und Kurzgeschichten haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert. In der freien Wirtschaft berät der Autor eine Firma zu PR-Strategien.

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