Die Küche Japans ist visuell und voller Symbolik, sie spricht die Seele an. Wenn Sie in Europa etwas japanisches essen, serviert man Ihnen fast immer eine Mischung aus chinesischer Küche mit einem japanischen Einschlag, oft simples Sushi. 

Das Wort Kaiseki ist eng mit der Geschichte der Mönche in Japan verbunden, mit kleinen Mahlzeiten wurde der schlimmste Hunger überbrückt. Erst im Lauf der Zeit wurde Kaiseki zu dem, was es heute ist, ein technisch und ästhetisch anspruchsvoller Ablauf von verschiedenen Zubereitungen. Einige Gerichte könnten ohne weiteres im Kunstmuseum präsentiert werden.

Während wir eine Miso-Suppe essen, hebt Tanaka zu einem kleinen Monolog an:

„Ich habe das Glück, über der Realität zu stehen. Mein Vermögen erlaubt es mir, in diesen Zeiten, wo viele Tote unbemerkt in großen Gruben verscharrt werden, ein Leben zu führen, wie ich es mir vorstelle. Wir waren schon immer Geschäftsleute und wir wissen, wie man schwierige Situationen meistert“.

„Ihr Geld macht Sie zum Gott ?“ Frage ich gleichgültig.

„Selbstverständlich, das tut es, so lange ich lebe. Ich bin reich und verändere die Wirklichkeit. In der Katastrophe nutze ich die Freiheit, ich bin Optimist, man muss die Realität immer wieder neu interpretieren und anpassen.

„Die meisten Menschen haben nur die Realität, in der sie leben müssen“, werfe ich ein und probiere den Thunfisch mit Wasabi, Sake-Yuzu-Gel und hauchdünn geschnittenen, gegrillten Kartoffeln, das fruchtig-salzige Aroma legt sich dosiert auf die Zunge und rast mit Lichtgeschwindigkeit in die Nase.

„Ach, das ist eine Staatsangelegenheit. Ich mische mich nicht in die Politik ein, aber wenn es sein muss, versuche ich sie zu steuern. Die Menschen leben in ihrer Realität, weil sie sie so wollen“.

Ich lasse den Blick durch den großen Raum mit seinen vielen Büchern schweifen und denke über diese provozierende Gesellschaftsdiagnose und über meine eigene Realität nach.

„Wissen Sie, mein Lieber, der Tod betrifft zunächst einmal alle anderen außer uns, das ist ein schöner Trost. Für viele ist er sogar ein wunderbarer Rettungsanker, finden Sie nicht ?“ Tanaka sagt diesen Satz mit einem lebhaften Ausdruck im Gesicht, als würde er nur auf meine Replik warten, um sie dann ganz ruhig zu widerlegen.

„Ich lebe gerne, ich genieße das Leben, der Tod gehört leider dazu, daran lässt sich nichts ändern“, sage ich ungerührt und gieße mir noch ein Glas Sake ein.

Plötzlich hören wir eine laute Frauenstimme:„Das reicht jetzt Kaito, du verdirbst mit deinen morbiden Ansichten unserem Gast den Appetit“.

Wir unterbrechen das Gespräch, Madame Tanaka steht auf einmal in der Bibliothek und straft uns beide mit strengem Blick. Tanaka nimmt einen großen Schluck Sake.

Mister Bad wohnt im letzten, fensterlosen Haus der Gedankenstraße. Davor steht ein großer, grüner Ahornbaum. Darunter küsst sich sich man sich zärtlich und wähnt sich unbeobachtet. Mister Bad sieht alles und schweigt darüber, er ist ein Voyeur.

Mister Good betrachtet eine Frau von etwa vierzig Jahren, mit schwarzen, glänzenden Locken die fast zur Hüfte reichen. Über einer schmalen Taille fließt von den Schultern bis zu den nackten Füßen ein Kleid aus weißer Seide, das den den Blick auf die sanften Rundungen ihrer langen Beine erlaubt. Ihr Gesicht leuchtet matt im Widerschein des Seidenkleids. Die langen Wimpern glänzen dunkel unter den geschwungenen Brauen. Ihre Augen sind ein smaragdgrüner Urwald auf einer dreidimensionalen Google-Maps Karte. 

Mister Bad:“Hey, Beschreibungen sind meine Aufgabe“. 

Mister Good:“Mach es besser!“

Unruhig dreht Madame sich um und ruft ihre Hunde. Der Rückenausschnitt geht knapp unter die Taille. Die Dalmatiner Tick, Trick und Track legen sich gehorsam vor ihre Füße und schauen mich durchdringend an.

Ich vertreibe Mister Good und Mister Bad und nehme noch einen Schluck Sake.

Wir stehen auf und verbeugen uns.

„Mein Name ist Matias Gutman.“.

„Nina, das ist der Journalist aus Deutschland“.

Ninas Blick rast wie ein Schnellzug auf freier Strecke auf mich zu.

„Bitte lassen Sie sich nicht von meinem Mann in diese trockenen Gespräche verwickeln, wir wollen uns amüsieren“, sagt sie und setzt sich zu uns.

Wir essen ein Yakimono mit Wagyu-Rind. 

„Wir leben hier abgeschieden, Mr. Gutman, ich hasse dieses Leben hier und liebe es gleichzeitig, das Haus ist viel zu groß. Manchmal besuchen uns Freunde aus der Stadt oder aus Europa. Es immer etwas besonderes, wenn jemand kommt und uns aus dieser Eintönigkeit reißt. Schauen Sie sich doch einmal hier um, ich muss in einem Museum leben.“ Sagt sie und zuckt dabei leicht resigniert mit den Schultern.

„Du hast alles was du willst Nina, mehr kann man nicht verlangen.“ Die Frau schweigt, als ihr Mann das sagt.

Wenn der Luxus zum Alltag wird, ist alles plötzlich nichts. Die Langeweile wird zum unbesiegbaren Feind, der die Gedanken belagert und ständig unser Gemüt angreift.

Ich sehe meine kleine Wohnung mit der einfachen Küche und dem Balkon vor mir. Wenn es mir gut geht, ist sie mein Refugium, wo ich Gedanken zu Papier bringe, Interviews vorbereite und Artikel schreibe. Geht es mir schlecht, werden die Räume zu einem Gefängnis, aus dem ich am liebsten sofort ausbrechen würde. Dann gehe ich in irgend eine Bar und trinke Whisky, wodurch das Gefühl aber nicht vertrieben wird, ich muss ja irgendwann wieder nach Hause, alleine der Begriff nach Hause macht mich in solchen Stunden wahnsinnig, weil er mir die Freiheit abschnürt.

Es ist spät geworden. Zu dritt laufen wir schweigsam durch den Park, der zum Haus gehört.

Noch immer beleuchtet der Mond hell die Landschaft, in der Ferne erahnt man die Reisfelder.
Wir spazieren durch eine Zedern-Allee, die großen Nadelbäume verbreiten einen dichten Duft der sich wie eine Wolke um uns legt.

„Ich bringe Sie morgen in die Stadt, mein Freund, ich habe dort sowieso etwas zu erledigen. Ich würde Sie bitten, solange Sie hier in Kyoto sind, unser Gast zu sein, wir haben noch etwas zu besprechen“, sagt Tanaka mit einem Blick, den ich nicht richtig deuten kann.

Ich freue mich insgeheim darauf, vielleicht mehr über Nina zu erfahren und blicke sie kurz an, als würde ich auf ein Signal warten. Ihre Augen bleiben undurchdringlich.

„Einverstanden, Herr Tanaka“, bevor ich weitersprechen kann, werde ich unterbrochen. 

„Nennen Sie mich Kaito, das macht alles doch viel einfacher, nicht wahr?“

„Also einverstanden Kaito, ich nehme ihr Angebot an und bleibe gerne“. Bei diesen Worten, scheint ein kleines, fast unsichtbares Lächeln über Ninas Gesicht zu eilen.

Wir gehen zurück ins Haus, das gleiche Mädchen, das uns vorhin die Speisen gebracht hat, führt mich in mein Zimmer. Es liegt in einem abgelegeneren Teil des Hauses, ich öffne das Fenster und lasse die milde Nachtluft herein.

Die Nacht wird lang, schlaflos wälze ich mich im Leintuch. Mitten in der Nacht erwache ich aus einem Albtraum, in dem ich mich selbst als alten Mann mit vertrockneten Hände sehe, der vor einer riesigen Tastatur sitzt und die überdimensionalen Tasten immer wieder mit einem Hammer schlägt, bis endlich in roter Schrift das Wort „Adieu“ zu lesen ist.

Endlich wird es Tag, beim Duschen versuche ich die nächtlichen Gedanken von mir abzustreifen, wie einen klebrigen Kaugummi von der Schuhsohle.

Nina und Kaito Tanaka sitzen, ganz europäisch, an einer Bar in der Küche und unterhalten sich leise.
Ich setze mich unsicher zu ihnen.

„Kommen Sie, Matias, essen Sie etwas, ein langer und interessanter Tag liegt vor Ihnen“, sagt Tanaka gut gelaunt und blickt mich einladend an.

Es gibt einen ausgezeichneten Kaffee, dazu ein Onsen-Ei und eine heiße Miso-Suppe. 

Ich erinnere mich an meine Mutter, die immer, wenn es mir nicht gut ging, etwas zu essen aufgetischt hat und mich mit den Worten „Mangia, che ti fa bene“, damit aufmunterte. Wie recht sie hatte, durch meinen Körper fließt frische Energie, die Gedankenschatten verschwinden.

Ich betrachte das Anwesen im Morgenlicht. Es gibt im Park einen großen Teich, in dessen Mitte sich ein sehr guter Nachbau des Tritonenbrunnens auf der Piazza Barberini in Rom befindet. Im Frühnebel sprudelt das Wasser in die Höhe und ergießt wellenschlagend in den See. Rechts neben dem Brunnen öffnet sich der Park und man sieht einen etwa einhundert Meter langen, ovalen Reitstall mit großen, holzgerahmten Torbögen. Man führt gerade mehrere Pferde hinein.
„Das sind meine Lieblinge“, spricht Tanaka halblaut zu mir, „morgen zeige ich Ihnen die ganze Anlage“, und weiter: „Nina kommt mit heute, Shopping in Kyoto“.

Tanaka lässt eine schwarze Toyota Limousine vorfahren. Ein altersloser Fahrer öffnet uns die Türen, ohne uns dabei anzublicken. Wir setzen uns in den Fond uns sagen nichts.

Wir warten bis die Zeit vergeht auf Nina.

Endlich setzt sie sich vorne zum Fahrer. Sie trägt eine blaue Hose, eine Bluse in Pink und versteckt ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille.

„Soll sie nicht hier sitzen?“ Frage ich und schiebe mein Gesicht so weit es geht nach vorne, um sie anzublicken.

„Ist ok, ich sitze gerne vorne“, dabei schaut sie uns beide kurz in die Augen.

Es geht über ein paar kleinere Straßen Richtung Kyoto, schließlich erreichen wir einen Highway, der in die Stadt führt. Ich werde mich nie an den Linksverkehr gewöhnen.

Die Reisfelder werden bewirtschaftet, die Ernte wird mit großen Maschinen eingefahren. 

Wir fahren wie ein Zug auf Schienen in Richtung Kyoto.
Auf der rechten Straßenseite rollt uns in einiger Entfernung ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit entgegen. Tanaka führt noch ein kurzes Gespräch über sein Handy. Unser Fahrer hält die Spur. Der große Wagen kommt näher, Nina fängt an zu schreien. Wir müssen ausweichen, der Toyota gerät außer Kontrolle, ich höre wie auf einmal Glas splittert und der Wagen den Boden verlässt, für eine Millisekunde ist totale Stille.

Als ich aufwache ist alles gut. Ich steige aus dem Auto aus und betrachte es von allen Seiten, es ist perfekt, als wäre es gerade aus der Waschanlage gefahren worden, völlig unversehrt.

Ich setze mich auf den Boden, der Schockzustand lässt nach, das Gehirn arbeitet. Wenige Meter vor mir sehe ich den den Fahrer, ich schleppe mich zu seinem Körper und ahne auf dem Weg, dass alle Anstrengung vergebens ist. 

Sein Kopf baumelt am Hals wie ein Hemd am Wäschehaken. Ein Bein ist amputiert, das andere im rechten Winkel abgeknickt, ein Geruch von Schweiss, Blut und Staub setzt sich auf die Atemwege.

Ich suche das Auto, überall sind Splitter, Stofffetzen und Staub. Meine Füße schmerzen. Meine Lunge scheint zu platzen. 

Wo ist Nina?

Irgendwo finde ich das verfluchte schwarze Blechskelett und versuche die Türe zu öffnen. Nina sitzt leblos auf dem Sitz. Ich schlage den letzen Rest der Autoscheibe mit einem Stein in Scherben und zerre sie herausheraus, dabei fließen mir Tränen und Schweiss über das Gesicht. Sie muss leben! Aber was hat dieses Gebet schon zu bedeuten?

Ich lege mein Kopf über ihre Brust und versuche den Herzschlag zu hören. Ein Schlag und noch einer und noch einer. Sie lebt.

Der Fond ist ein Blutbad, atmet noch jemand? Ich schaffe den schweren Körper Tanakas irgendwie aus dem Auto. Er nimmt instinktiv meine Hand ich rieche den Scheissegeruch.

„Bringen Sie bitte dieses Päckchen nach Tokio, Adresse steht darauf“. 

Auf einmal frage ich mich, was aus mir wird, in dieser verfickten 
Situation, gibt es jemanden, der mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist?

über den Autor

Mathias

Mathias Guthmann schreibt unter anderem für kulinarische Zeitschriften und den Schachsport. Seine Essays, Reiseberichte und Kurzgeschichten haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert. In der freien Wirtschaft berät der Autor eine Firma zu PR-Strategien.

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