Himmel und Erde, In der Küche eines Restaurantkritikers“, so lautet der Titel des Buches von Jürgen Dollase, das ich hier vorstelle.
Dollase ist der wichtigste Restaurantkritiker hierzulande, seine Kochbuch-Kolumne „Esspapier“ in der Frankfurter Allgemeinen setzt sich stets treffend mit den aktuellen Entwicklungen in der Kochkunst auseinander.
Bereits die ersten Seiten verbinden uns atmosphärisch mit dem Autor, Dollase ist ein Meister der Analyse, ein „Entzauberer“ im wahrsten Sinne.

Darüber steht seine große, vielleicht sogar zärtliche  Affinität zur Küchenkunst, das schließt populistische Ansätze von vornherein aus und fokussiert das Thema auf Grundlegendes. Nichts wird dem Zufall überlassen, Resultate auf dem Teller sind das Ergebnis analytischer Überlegungen, Bauchgefühle gibt es zwar, sollen aber im kreativen Prozess eine untergeordnete Rolle spielen.

Ein Kritiker soll nicht belehren, er muss verstehen und erklären, und wenn er das nicht kann, dann hat er die Bezeichnung Kritiker nicht verdient.

Dollase belegt seinen Satz mit präzisen Formulierungen, genau das macht ihn für das Fach so wichtig. Im Kern bezieht sich der Kritiker auf die Nachvollziehbarkeit der Urteile, zum Beispiel über ein Restaurant, eine Speise oder den Koch, mit einem Wort: Basiskritk!

Nach der Einleitung unterteilt sich das Buch in die Kapitel:

  • Gemüse
  • Fast Nichts-Einfach Aber Genial
  • Optimierung und Gerichte die ich immer wieder koche
  • Einfache Produkte
  • Grenzwertiges
  • Sensorik
  • Nova Regio
  • Neue Konzepte
  • Desserts

(letzteres hätte auch fehlen dürfen, da es tatsächlich das einzige Kapitel mit spärlichen Informationen ist).
Das Buch darf auch als Anleitung zur Geschmacksausbildung verstanden werden, etwas anders zwar als in in seiner „Geschmackschule“ aber eben doch zielgerichtet. Manche Rezeptvorschläge sind eher als Versuchsanordnungen zu betrachten, wie zum Beispiel „Die Rosenkohlvariation“. Die Röschen werden von den äußersten Blättern befreit und am Stielansatz abgeschnitten, bei geringer Temperatur wird das Gemüse dann warmgehalten bis es schließlich mit den angegebenen Elementen aromatisiert wird. Die Sensorik der Aromenbilder werden mit Anmerkungen versehen und reichen von Zitronenzesten über Streifen von durchwachsenem Speck bis hin zu Schokolade und Foie gras.
Ein uns bekanntes Alltagsgemüse wird wie ein Luxusprodukt behandelt, das ist zwar nicht neu wird aber von Dollase meisterhaft ausgeführt.
Ein interessanter Abschnitt behandelt den Einkauf und die Qualitäten der Waren, eine berechtigte Kritik bezieht sich auf die Auslage in den Supermärkten. Dort muss ein breites Sortiment bedient werden worunter einzelne Produkte leiden, als Beispiel sei hier das Geflügel erwähnt, in den Großtheken unserer Supermärkte tatsächlich nur als minderwertige Ware erhältlich, aus Massenhaltung und de facto nicht verwendbar.
Es folgen Ausführungen über die Ausstattung der Küche, ein privater Blick hinter die Kulissen, mir persönlich gefällt das und ich kann auch keine unmittelbare Prätention darin erkennen, sondern vergleiche unwillkürlich mit meiner eigenen Ausstattung. Schließlich passt hier dann auch der Untertitel »In der Küche eines Restaurantkritikers«.
Dollase streift dann Aspekte der Regionalen Küche insbesondere der „Nova Regio“ ein Begriff aus seiner eigenen Feder der so auch von René Redzepi (NOMA) adaptiert wurde. Es wird damit eine echte regionale Küche ausgedrückt, also die Reduktion auf alle Materialien die unmittelbar als regional zu bezeichnen sind. Redzepis Konzept war vor einigen Jahren hochaktuell und in gewisser Weise revolutionär.

Metamorphose der Kartoffel

Zu den einfachen aber genialen Zubereitungen zählt die Rezeptur einer Kartoffel die durch eine spezielle Behandlung überraschende Röstaromen annimmt und quasi auf eine höhere Aroma-Ebene gehoben wird. Das geschieht durch eine Vorgarung und anschließender langsamer Röstung bei geringer Hitze in ungeschältem Zustand. Das ist interessant weil wieder ein Alltagsprodukt herangezogen wird, das mit technischer Raffinesse bearbeitet und dadurch aufgewertet wird.
Ich erinnere mich dabei an eine andere aber genau so raffinierte Art der Zubereitung, nämlich der Kartoffel im Salzteig. Ebenso wie im vorliegenden Beispiel spielt hier die Temperatur eine entscheidende Rolle. Der Salzteig verhindert den Kontakt mit Sauerstoff, die Konsistenz der Kartoffel ändert sich radikal, das Endprodukt ist gelée-artig, bernsteinfarben mit Untertönen von Karamell und Vanille.

Sensorik und Geschmackskurven

Die Aufteilung dessen was wir schmecken in Süß, Sauer. Bitter, Salzig und Umami ist kein Spiegelbild einer objektiven geschmacklichen Wahrnehmung da die Begriffe zu eindimensional sind. Es gibt wesentlich mehr Informationen zu verarbeiten, als jene die direkt an unsere Geschmacksknospen gekoppelt sind. Texturen spielen eine wichtige Rolle also zum Beispiel weich, hart, kross, schmelzend. Die Zusammenhänge zwischen den Faktoren Temperatur, Aroma und Textur bilden dann das komplexe „Geschmacksgemälde“ ab. Dollase entwickelt aus diesen Beobachtungen die Geschmackskurven, jedes Produkt hat eine spezifische Geschmackskurve die er in verschiedene Phasen unterteilt und sie mit (englischen) Fachbegriffen beschreibt: Attack, Plateau, Decay und Sustain.

Ein praktisches Beispiel: Die Walnuss

Wenn Sie eine Hälfte der Walnuss in den Mund nehmen, haben Sie ein intensives sensorisches Erlebnis. Es kracht beim Kauen, wenn Sie genau hinschmecken werden Sie noch wenig Aroma wahrnehmen, Attack. Erst danach entfaltet sich der Geschmack in seiner Vollständigkeit, wir befinden uns in diesem Augenblick auf dem Plateau, danach kommt es zu einer Abnahme der Geschmackswahrnehmung, also Decay. Am Ende bleibt der Nachhall, treffend übersetzt mit Sustain.
Testen Sie einfach einmal Ihre Wahrnehmung mit Hilfe dieser Begriffe, es wird Sie überraschen wie schnell Ihr eigener Geschmackshorizont erweitert wird, ganz prächtig funktioniert das zum Beispiel mit Eis weil da auch noch der Faktor Temperatur hinzu kommt.

Aggregatzustände, „Mundkino“

Eine komplexe Fall-Studie ist das Sensorische Ragout von der Tomate. Dollase setzt hier verschiedenste Mittel ein um die gewünschten Aggregatzustände zu schaffen. Die Bandbreite reicht dabei von der getrockneten Tomatenhaut über das Püree bis hin zu einer „Air“ gerne auch als Schäumchen bezeichnet.
So faszinierend die Anordnung sein mag, ist es doch eine Theorie-Studie. Ich schreibe das, weil ich ja nicht nur Kritiker bin, sondern als Eventkoch viele Erfahrungen gesammelt habe und deswegen behaupten darf, dass das Gericht praxisfern ist. Spielt aber keine Rolle, das Kapitel soll uns einfach aufzeigen welche mannigfachen Möglichkeiten es gibt, einfache Produkte auf höchste Ebenen zu heben, der Autor hat es zu Recht zu Papier gebracht, Dollase denkt eben auf einer anderen Stufe und vermittelt uns damit faszinierende Ideen, die in anderer Form sicher auch zur Anwendung kommen dürfen.

Fotografien

Thomas Ruhl hat die Kreationen unprätentiös aber sehr spektakulär abgelichtet, sie stehen nicht als Verkünstelungen im Raum sondern begleiten die Ausführungen Dollases auf perfekte Art und Weise.

»Himmel und Erde« von Jürgen Dollase ist eine absolute Kaufempfehlung, vielleicht als Ergänzung zu seiner Geschmacksschule, vielleicht aber auch einfach als hinreißende Dokumentation seiner Ideen.

Kritik hat mit meckern nichts zu tun, sondern ist im Wesentlichen die Kunst eine objektive Geschmacksanalyse durchzuführen und damit auch den Köchen gerecht zu werden.

Jürgen Dollase, Himmel und Erde, In der Küche eines Restaurantkritikers

Verlag: AT Verlag AZ Fachverlage (8. September 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3038008141
ISBN-13: 978-3038008149

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über den Autor

Mathias

Mathias Guthmann schreibt unter anderem für kulinarische Zeitschriften und den Schachsport. Seine Essays, Reiseberichte und Kurzgeschichten haben eine hohe Reichweite und werden in verschiedensten Fachmagazinen, auch international, publiziert. In der freien Wirtschaft berät der Autor eine Firma zu PR-Strategien.

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